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Da hat wohl manch einer der honorigen Herren hinter den zugezogenen Gardinen gezittert, als die Soldaten mit ihrer roten Fahne durch Varel marschierten. Revolution!
Der Krieg war verloren, die Matrosen in Kiel und Wilhelmshaven wollten sich nicht für das falsche Ehrgefühl ihrer Admiralität noch zum guten Schluss auf die Schlachtbank führen lassen. Sie verweigerten einfach die Befehle, und wohlgetan haben sie damit! Denn Frieden musste werden! Wie lange hatten wir gehungert und jeden Tag davor gezittert, ein Brief würde uns verkünden, unser Ehemann, Vater, Bruder, Sohn sei für Kaiser und Vaterland gestorben! Schluss ist nun damit! Endlich!
Wenn ich solche Reden führe, da blicken mich die Herren ganz verstört an. Ob mir so etwas überhaupt zustehe, mir zartem, unverständigem Weib? Und ob, und wie es mir zusteht! Wir Frauen kämpfen schon so lange dafür, dass man uns Bildung nicht länger verwehrt. Ja, auch politische Bildung! Die einzigen, die das verstanden hatten, waren die Sozialdemokraten. Sie hatten schon vor Jahren das Frauenwahlrecht im Großherzogtum Oldenburg eingefordert. Und jetzt, wo es keinen Kaiser mehr gibt und auch der Großherzog abdanken musste, wo es einen Arbeiter- und Soldatenrat in Oldenburg und auch in Varel gibt, ändern sich wohl endlich die Zeiten. Der Rat der Volksbeauftragten in Berlin unter Friedrich Ebert will Wahlen für eine verfassungsgebende Nationalversammlung ausschreiben, und ratet, wer dabei das erste Mal wird wählen dürfen: Jawohl, wir Frauen! Und nicht nur das, wir selber dürfen auch gewählt werden! Ich sag nur: Meine Stimme haben sie!

Während im Oktober 1918 die Oberste Heeresleitung bereits auf einen Waffenstillstand drängte, verfügte die Admiralität ein Auslaufen der Kriegsflotte zu einem letzten Gefecht. Doch die Matrosen wollten sich nicht sinnlos opfern lassen. Bei der Flotte, die vor Wilhelmshaven lag, verweigerten viele Matrosen den Befehl und in Kiel verbündeten sich die Soldaten mit den Arbeitern, um die Macht in der Stadt zu übernehmen. Von dort ausgehend rollte die Revolution durch ganz Deutschland. Arbeiter- und Soldatenräte übernahmen provisorisch die Macht, auch in Varel, wo sich am 6. November die Soldaten der hier stationierten 15. Seewehrabteilung mit den Aufständischen in Wilhelmshaven solidarisierten. Am 9. November erreichte die Revolution Berlin. Kaiser Wilhelm II. musste abdanken, Philipp Scheidemann von der SPD rief die Deutsche Republik aus und ein Rat der Volksbeauftragten mit seinem Vorsitzenden Friedrich Ebert übernahm die Regierungsgewalt. Am 11. November dankte auch Großherzog Friedrich August ab und es wurde eine kurzlebige „Republik Oldenburg-Ostfriesland“ proklamiert.
Die SPD arbeitete auf eine parlamentarische Demokratie hin und führte das aktive wie das passive Frauenwahlrecht ein. Allerdings wurden nur wenige Frauen aufgestellt und auch gewählt. Immerhin, die erste Frau, die im Deutschen Reichstag saß, hieß Marie Behncke und stammte aus Varel, genauer: aus Dangastermoor.