Foto - Stefan Herringslack

Lengerich

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„Fahrkartenkontrolle! Wer ist noch zugestiegen? Sie etwa? Dann zeigen Sie mal her! – Hach, zu spät! Jetzt ist es mir zu duster zum Lesen. Ha, jaja, gerade in den Tunnel eingefahren. Dann müssen wir halt ein wenig warten. Wissen Sie eigentlich, dass das hier ein ganz besonderer Tunnel ist? Er ist nämlich der nördlichste echte Eisenbahntunnel Deutschlands. Wenn man ihn nach Norden hin durchfahren hat, dann kommt nämlich nur noch die norddeutsche Tiefebene. Durch die geht´s von Osnabrück aus weiter bis Bremen und Hamburg. Ja, man muss eben mit der Zeit gehen. Und für die Wirtschaft ist es immens wichtig, eine Trasse direkt vom Ruhrgebiet zu den deutschen Seehäfen zu haben, um von dort aus „Made in Germany“ in alle Welt zu verschiffen. Bei der Planung hat man ziemlich genau nachgedacht, wo der Teutoburger Wald am günstigsten zu durchschneiden wäre, und das war nirgendwo anders als in Lengerich. Deshalb gibt es hier seit 1871 diesen wunderschönen Tunnel und einen Bahnhof an einem großen Eisenbahnkreuz. (Pfiff)  So, jetzt haben wir die 765 Meter lange Tunnelfahrt schon hinter uns. Dann haben wir auch wieder etwas mehr Licht. Und nun zu Ihrer Fahrkarte.“

Im Jahr 1926 wurde beschlossen, einen weiteren Tunnel zu bauen, und damit vier Gleisspuren statt der bisherigen zwei einzurichten. Zwei Jahre später war der neue Tunnel fertig, aber der alte konnte nicht, wie vorgesehen, saniert werden, weil ab 1929 aufgrund der Weltwirtschaftskrise die Mittel dazu fehlten. Daher folgte die Stilllegung.

Damit könnte die Geschichte dieses Tunnels zu Ende sein, ist sie aber nicht. Während des Zweiten Weltkrieges wurde nach bombensicheren Produktionsstätten für die Kriegsindustrie gesucht. In Lengerich wurde man hinsichtlich des alten Eisenbahntunnels fündig. Seit 1944 mussten Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten und KZ-Häftlinge unter menschenunwürdigsten Bedingungen der deutschen Kriegswirtschaft im Lengericher Tunnel zu Diensten sein. Bis zu 200 Häftlinge mussten hier Bauteile für Jagdflugzeuge herstellen, aufgrund der kaltfeuchten Luft unter Tage zeitweise bei einem Krankenstand von über 40 % und immer unter Beobachtung von SS-Wachen, die auch kleinste oder angebliche Versäumnisse auf brutalste Weise ahndeten. Kurz vor Ende des Krieges wurde das Lager aufgegeben, die Häftlinge aber nicht in die Freiheit entlassen, sondern für weitere Stationen ihres Martyriums Richtung Norden verbracht.

Der alte Tunnel ist heute vielfach baufällig und daher nicht mehr zugänglich. Büsche verdecken ihn weitgehend, einen Ort, der, wie so viele andere in Deutschland, einerseits Errungenschaft und andererseits Verbrechen in sich vereinigt.