Die Kaplanei in ihrem ursprünglichen Zustand um 1920
Als im Jahre 1863 Kaplan Müller sein Amt in Glandorf antrat, durfte er sich darüber freuen, in die stattliche Kaplanei einziehen zu können. Eine eigene Wohnstatt stand ihm von Rechts wegen bei seiner Versetzung nach Glandorf auch zu und gegönnt hatte es diesem Kaplan wohl jeder:
Kaplan Müller war hochgelehrt und hatte einen theologischen Doktortitel. Aber das war es gar nicht, was ihn ausmachte. Er war einfach von Jugend an so fromm und katholisch, dass er ein geradezu heiligenmäßiges Leben führte. Er war ein warmherziger und überzeugender Prediger, ein vorbildlicher Beichtvater und ein Seelsorger, der für seine Gemeindemitglieder geradezu alles tat. Dazu hatte Kaplan Müller etwas beeindruckend Asketisches an sich: Sein Talar, mit dem er sich alltags kleidete, war abgetragen und der Überrock, den er im Winter trug, noch schäbiger. Nachdem er sich eines Tages auf der Kanzel über das Maßhalten und das Fasten in Begeisterung gepredigt hatte, beschloss er, grundsätzlich nur noch Wasser zu trinken. Darüber hinaus trug er, um sich in Demut zu üben, oft sogar einen aus Draht geflochtenen Bußgürtel direkt auf der blanken Haut.
Dass nun ausgerechnet diesem enthaltsamen Mann etwas widerfuhr, das in Glandorf eine ausgesprochene Ausnahme darstellte, war nun wirklich kaum zu glauben. Aber wo geht es schon immer gerecht zu?
Ein Mann namens Friedrich Wollenweber war in Glandorf unterwegs, als er meinte, in einem Haus ein Gesprächsfetzen über einen hohen Geldbetrag zu hören. Da Wollenweber gewisse Erfahrung darin hatte, auf krummem Weg an Geld zu gelangen - und er im Übrigen gerade knapp bei Kasse war – schlich er sich durch die Gartentür ins Haus und versteckte sich dort, bis der Hausbesitzer zum Schlafen das Licht gelöscht hatte. Zunächst versuchte es Wollenweber leise und auf eigene Faust. Da er aber nirgendwo fündig wurde, begann er den Sekretär im Arbeitszimmer aufzubrechen, woraufhin der Hausbesitzer erwachte und lautstark fragte: „Wer da?“ Da betrat Wollenweber das Schlafzimmer mit einem Messer in der Hand und wollte mit bedrohlicher Stimme nun seinerseits wissen: „Wo ist dein Geld?“
Der zu Recht erschrockene Herr des Hauses war aber niemand anderes als unser gottesfürchtiger Kaplan Müller. In seiner Not übergab er dem Räuber die Schlüssel zum Sekretär und verriet ihm noch das eine oder andere Versteck, so dass dieser mit reicher Beute abziehen konnte. Zum Abschied drohte er noch dem armen Kaplan, sie seien zu mehreren und wenn er sich rühren würde, sei er ein Kind des Todes. Doch nachdem sich eine Weile nichts mehr rührte, verließ der Kaplan schließlich beherzt sein Bett und schlug Alarm. Schon am nächsten Tag war der Übeltäter überführt und gefasst. Der fromme Kaplan Müller hatte ihm natürlich längst vergeben, aber das Schwurgericht in Münster schickte Wollenweber für 12 Jahre ins Zuchthaus.