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Ich weiß, es geht zu Ende. Man wird uns nach Osten bringen. Ich habe furchtbare Angst davor, was mit uns dort geschehen wird. Aber dieses sich seit Monaten dahinziehende Vegetieren hier in Varel ist so elend, dass ich kaum weiß, was schlimmer ist, hierzubleiben oder gehen zu müssen. Im Oktober 1941 hat man uns aus Emden hierhergebracht. Praktisch nichts durften wir mitnehmen. Wie Vieh hat man uns verladen, meinen Mann Louis, mich, und 21 weitere, vielfach völlig hilflose und hinfällige Bewohner des Emder Altenheimes, die meisten von ihnen gebürtige Ostfriesen, nur dass sie nun den Judenstern tragen müssen. Da Louis Gemeindevorsteher in Emden gewesen ist, hat man ihn zum Leiter der neuen Unterbringung gemacht. Zu 23 Personen sind wir hier zusammengepfercht in 7 kleinen heruntergekommenen Räumen. Es gibt für alle zusammen nur eine einzige Toilette, geschlafen wird auf Feldbetten. Hier in der Schüttingstr. 13 betrieben die Geschwister Weinberg, bis wir kamen, ein kleines jüdisches Altenheim mit 6 Bewohnern. Allein das muss schon furchtbar beengt gewesen sein. Aber kein Vergleich zu dem, wie es jetzt ist. Die Weinbergs sind schon fort. Im Osten. Uns bleibt noch eine kleine Zeit. Die Alten verbringen sie vielfach stumm, manchmal auch leise greinend, indem sie sich einfach ihrem Elend hingeben. Louis und ich geben uns redlich Mühe. Aber hier gibt es keinen Trost.
Inzwischen ist uns die Anordnung für den Abtransport zugegangen. Es heißt, wir kommen nach Theresienstadt. Louis und ich haben noch eine Postkarte an unsere Kinder in Schweden geschickt. Ich hoffe, sie kommt an. Natürlich konnten wir nicht schreiben, wie es um uns steht. Sonst hätte die Karte keine Chance, durch die Zensur kommen. Ich bin so froh, dass die Kinder im Ausland sind. Trotzdem bringen mich jeden Tag Sehnsucht und Sorge fast um den Verstand. Wie sehr hoffe ich, dass es ihnen allen gut geht.

Seit dem 17. Jhd. hatten Juden ganz selbstverständlich in Varel gelebt und hatten das gesellschaftliche wie wirtschaftliche Leben der Stadt vielfältig bereichert. Es gab Geschäfte wie das Kaufhaus Weiß, in denen die Einwohner Varels gerne einkaufen gingen, es gab die Lederwarenfabrik Schwabe, die vielen Vareler Arbeitern ein überdurchschnittlich gutes Auskommen bot. Jüdische Mitbürger waren in den Stadtrat gewählt worden, jüdische Unternehmer hatten soziale Stiftungen in der Stadt gegründet. Und selbstverständlich hat Varel eine Synagoge gehabt, die seit 1848 in der Osterstr. stand. Sie wurde in der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 ihres Inventars beraubt und angezündet. Viele Juden aus Varel waren vorher schon emigriert, für andere waren die schlimmen Ereignisse dieser Nacht das Fanal zur Flucht. Doch nicht alle wollten oder konnten sich von ihrer Heimat trennen. Zuletzt blieb nur noch das jüdische Altersheim. Mit der Deportation der Bewohner des Weinberghauses am 23. Juli 1942 war das jüdische Leben in Varel ausgelöscht. Die meisten der Deportierten starben bereits kurz nach ihrer Ankunft im Ghetto Theresienstadt. Die Heimleiter Betti und Louis Wolff wurden im Herbst 1944 in den Gaskammern von Ausschwitz ermordet.