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Hach, wir leben in politisch stürmischen Zeiten! Ich sage nur den einen Namen: Napoleon! Wie ein Wirbelsturm kehrt er in Europa das Unterste zuoberst. Das alte Deutsche Reich hat er zerschlagen, und so wurde die Herrschaft Kniephausen ein völlig eigenständiger Staat! Da Kniephausen aber von unserem Grafen Bentinck von Varel aus regiert wird, fiel ein Stück dieser Unabhängigkeit auch auf uns hier. Und das zahlte sich in barer Münze aus! Es ist nämlich so, dass Napoleon den ganzen europäischen Kontinent als wirtschaftliche Sperrzone für britische Waren einrichtete. Das blieb ihm im Kampf gegen England als einziges Mittel, denn seit der Seeschlacht von Trafalgar hatte er kaum noch eine eigene Flotte. Schlecht für Napoleon, gut für uns, denn die Herrschaft Kniephausen galt zunächst als neutral und war von den Vorgaben der Kontinentalsperre ausgenommen. Diese Gelegenheit ließen wir Vareler Kaufleute uns natürlich nicht entgehen. Wir machten vorzügliche Geschäfte! Und auch jetzt noch, wo wir mittlerweile offiziell zum französischen Kaiserreich gehören, gehen die Geschäfte gut, zwar nicht immer auf dem Wege, die sich die französischen Zollbüttel vorstellen, aber trotzdem gut. Haha, wie gesagt, die Franzosen haben keine eigene Flotte mehr, was uns die Sache sehr erleichtert!
Damit unsere Geschäfte auch weiterhin so gut gehen, brauchten wir einen Ort, wo wir uns austauschen und natürlich manchen Handel abschließen konnten. Daher wurde im Jahr 1812 dieses schöne Gebäude hier als Börse errichtet und als Klubhaus für Kaufleute und Gewerbetreibende.
Nun, stürmisch werden die Zeiten sicherlich bleiben. Haha, aber immerhin haben wir jetzt ein anständiges Dach über Kopf!

Das schöne zweigeschossige Gebäude der Börse im Stil des Klassizismus stammt aus dem Jahr 1812 und war zunächst Klubhaus und Gaststätte. Darüber hinaus diente es aber noch einem weiteren Zweck. In dem hochgewölbten Dachgeschoss des Hauses war nämlich der Saal einer Freimaurerloge namens "Wilhelm zum silbernen Kreuz" untergebracht. Das Ganze wirkt weit weniger mysteriös, wenn man weiß, dass der namensgebende „Wilhelm“ niemand anderer war als der in Varel regierende Graf Bentinck, der dieser Loge vorsaß. Die Mitglieder stammten folgerichtig aus den oberen Chargen von Hof und Gesellschaft. Zu dieser Zeit galten solche Geheimbünde als sehr schick. Jeder, der etwas auf sich hielt, musste Mitglied in einem solchen sein. Das galt sogar für Leute wie George Washington oder Friedrich den Großen.
Nach Ende der ursprünglichen Nutzung diente das Gebäude lange als Mietshaus. 1907 erwarb die Stadt Varel das Haus, um dort wenig später eine Außenstelle des Rathauses einzurichten. Abgesehen von Unterbrechungen während der Weltkriege blieb die Börse Sitz städtischer Institutionen, bis sie 2020 in den Besitz der Gertrud und Hellmut Barthel Stiftung überging. Die Barthelgeschwister stammten aus einer Chemnitzer Fabrikantenfamilie und bauten ab 1948 in Varel ein Papier- und Kartonunternehmen auf, das bis heute existiert. Die Stiftung verwendet ihre Mittel für viele Aktivitäten hinsichtlich Bildung, Umwelt und Kultur in Varel, Friesland und darüber hinaus. Zudem fungiert das Haus heute als „Börse der Ideen“ und damit als Austausch- und Begegnungsort.