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Ich erinnere mich noch genau, als wäre es gestern gewesen. Es war an einem nasskalten Montagmorgen im September. Ich stand mit den anderen Kindern meiner Klasse auf dem Schlossplatz und wartete darauf, dass sich die Türen der Schlosskirche zum Gottesdienst öffneten.
Die Schulrektorin Frau Eyting war eine ausgesprochen resolute Person mit sehr klaren Vorstellungen davon, was richtig oder anständig sei. Sie musterte uns streng und niemand von uns wagte, nur einen Piep von sich zu geben. Schließlich fiel ihr Blick auf meine Mitschülerin Marita. Man konnte regelrecht sehen, wie sich erbost ihre Augen weiteten. Sie stellte sich vor das kleine Mädchen hin und blickte abschätzig herab. Sodann begann die Eyting sich in ihrem keinen Widerspruch duldenden Tonfall, den wir alle so fürchteten, über die Bekleidung Maritas zu ereifern und sie herunterzubürsten. Das Mädchen trug doch tatsächlich eine Hose! „Keine Hose in der Kirche!“, rief die Eyting erzürnt aus. Marita habe vernünftig gekleidet zu Unterricht und Gottesdienst zu erscheinen. Sie solle schleunigst nach Hause gehen und im Rock wieder erscheinen. Ich sah, wie Marita mit den Tränen kämpfte. Auch noch andere Mädchen, die zumal aufgrund der Witterungsverhältnisse in Hosen gesteckt worden waren, wurden nun erbarmungslos nach Hause geschickt, natürlich mit der Maßgabe, noch pünktlich zum Gottesdienstbeginn wieder da zu sein.
Maritas Vater war damals bei der Wilhelmshavener Rundschau beschäftigt. Und weil ihn die Sache dermaßen ärgerte, ging er damit an die Öffentlichkeit, was ein großes mediales Echo hervorrief. Der Spiegel und der Stern berichteten, sogar das Fernsehen rückte an. Obwohl hier eindeutig in Persönlichkeitsrechte und das Erziehungsrecht der Eltern eingegriffen wurde, ging die Politik damals in Deckung. Weder der Vareler Stadtrat noch der Kultusminister wollten sich eindeutig zur Sache äußern. Schon irgendwie feige. Aber man war halt Ende der 50er noch nicht so weit. Glücklicherweise sollte sich das bald ändern.

Der sog. „Vareler Hosenkrieg“, der 1957 bundesweite Bekanntheit erlangte, war ein typisches Beispiel für die Atmosphäre in der frühen Bundesrepublik. In vielen wichtigen Positionen von Politik und Gesellschaft saßen Personen, die ihre Karriere während der Nazizeit begonnen hatten. Zwar dienten sie sich der neuen Demokratie genauso an wie ihren früheren Herren, waren damit aber noch keineswegs Träger einer freiheitlich-demokratischen Gesinnung. Vielfach meinte man nach überstandener Katastrophe von Krieg und Diktatur einfach weitermachen zu können wie bisher. Dazu gehörte auch ein Zurückzugreifen auf vermeintlich bewährte Ordnungsvorstellungen, z.B. dass ein Mädchen in Hose etwas sei, dass der gesellschaftlichen Konvention, oder wie es damals hieß: dem „Anstand“ widerspreche. Eine echte Veränderung dieser Verhältnisse brach sich erst in den 1960ern und 70ern ihre Bahn, als eine Mehrheit in der Gesellschaft schließlich bereit war, „mehr Demokratie zu wagen“.
Der „Vareler Hosenkrieg“ blieb vielen Zeitzeugen in Erinnerung, da sich hier in besonders lächerlicher und gleichzeitig empörender Weise eine überzogene wie übergriffige Kleinkariertheit manifestiert hatte.