Ochtrup

Das Drama von St. Marien

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Herzlich Willkommen in der Marienkirche! Ludwig Ebbing ist mein Name und ich bin seit 1961 Pfarrer in St. Marien. Der heutige Sonntag, der 5. September 1965, ist für unsere Gemeinde wahrlich ein lang ersehnter Tag. Nach anderthalb Jahren können wir endlich wieder die Heilige Messe feiern. Gut, dass die Zeit der Notlösungen jetzt ein Ende hat!
Wissen Sie, nach 1945 fanden 3.000 Ostvertriebene und Flüchtlinge in Ochtrup eine neue Heimat. Unsere Gemeinde war auf insgesamt 11.500 Mitglieder gewachsen. Damit waren die Kapazitäten der St. Lamberti-Kirche im alten Ortszentrum bei weitem gesprengt. Eine zweite, eigenständige Kirche musste her. Geplant wurde sie von dem bekannten Architekten Dominikus Böhm, einem echten Meister des Kirchenbaus,
dem Ochtrup seit seiner Tätigkeit für die hiesige Textilfirma Gebrüder Laurenz schon bekannt war. Mit tatkräftiger Unterstützung der Bevölkerung wurden die Pläne Böhms umgesetzt. 1953, nach knapp zweijähriger Bauzeit, fand die feierliche Kirchenweihe statt.
Doch nach nur gerade einmal elf Jahren wurde die Kirche baupolizeilich schon wieder geschlossen, sogar Radio und Fernsehen berichteten davon! Welch eine Schande!
Dabei ist die Kirche wirklich schön: Eine weite dreischiffige Hallenkirche aus gestreifter roter Backsteinaussenhaut mit seiner herrlichen 9 m großen Fensterrosette und einem weitgehend freistehenden wuchtigen Glockenturm mit unterschiedlichen Fensterformaten.
St. Marien war als „Zelt Gottes“ konzipiert, was den frühchristlichen Gedanken der auf Erden pilgernden Gottesgemeinde aufnimmt und auf das Stiftszelt Israels während seiner Wüstenwanderung verweist. An sich ein schönes Bild, aber die Umsetzung dieses Konzepts im Inneren trug den Kern der Katastrophe schon in sich. Schlanke Stahlpfeiler in der Kirchenhalle trugen eine luftig-leicht wirkende weiße Stuckdecke,
die an ein verputztes Metallgitter in sog. Rabitztechnik angesetzt war. Die unverzinkten Haltedrähte der ehemals weißen Putzdecke rosteten in ein paar Jahren einfach durch. Schließlich bestand sogar Einsturzgefahr für die Kirchenhalle und den Turm.
Aber der Mensch lernt selten dazu: Die vom Konzil eingesetzte Kunstkommission ließ verlauten, sie könne nicht umhin, die Wiedererbringung des von Dominikus Böhm gewollten Rauminnenriss in möglichst jeder Einzelheit, Rabitzdecke sowie die Stützenreihen erhalten zu wünschen. Da hätte ich fast explodieren mögen! Aber zuletzt haben wir doch gesiegt. St. Marien bekam eine solide Holzdecke.
Seitdem erinnert vielleicht nicht mehr ganz so viel an das „Zelt Gottes“, aber dafür bringen die neuen Bleiglasfenster des niederländischen Künstlers Hubertus Brouwer mächtig Farbe in das Haus des Herrn! Pop-Art in der Marienkirche! Die farbenprächtigen Buntglasfenster zum Marienleben erscheinen dem Betrachter im Spiel des Lichtes zu jeder Tageszeit immer wieder neu. Einfach schön! Auch wenn einige Darstellungen auf den Bildern für ein Gotteshaus ziemlich gewagt sind! So etwas
kannten die Ochtruper bislang noch nicht – und die bischöfliche Kunstkommission erst recht nicht. Tja, aber die Zeiten ändern sich. Und die Kirche muss mit den Gläubigen in einer Sprache sprechen, die sie auch verstehen, gestern, heute und auch morgen noch! Aber wo wir gerade bei der Kunst sind: Vielleicht schauen Sie sich einmal die 14 Kreuzwegstationen in unserer Kirche an. Sie stammen von dem Kunstmaler Clemens Wieschebrink, ein echtes Ochtruper Eigengewächs, worauf wir sehr stolz sind.

So, und wenn Sie mir jetzt nicht noch etwas zu beichten haben, muss ich mich wieder um meine anderen seelsorgerischen Pflichten kümmern. Gott zum Gruße!